Über mich

Über mich

Durch einen Zufall begann ich, Aikido zu machen, das gerade nach Europa gekommen war. Da ich mit ganzem Einsatz trainierte, war ich schnell der höchste Schüler des für Deutschland zuständigen japanischen Lehrers. Doch der hatte - wie er mir sagte - immer geschlafen, wenn der alte Meister Ueshiba über die Philosophie des Aikido gesprochen hatte. So entschied ich mich, auch noch die Lehrer meines Lehrers aufzusuchen, Meister Tada in Rom und Meister Noro in Paris. Ich wurde der einzige Ushi Deshi Noros (ein im Dojo lebender Meisterschüler) und ging morgens zu Deshimaru, dem Zen-Mann, von dem Noro sagte "der wäre verrückt", und der von Noro sagte "der hätte nichts verstanden". Ich lachte darüber und ging meinen Weg. Auf der Matte war alles einfach, und während des Sitzens war mein Geist vollkommen still, war ich eins mit der Übung. Aber was war danach?

Weil ich nichts zu essen hatte, folgte ich der Bitte Graf Dürckheims und ging nach Rütte, um dort Aikido zu unterrichten. Es war eine schöne Zeit, aber der Versuch, meinen Unterricht in die therapeutische Arbeit einzubinden, behagte mir nicht. Ich verstand Aikido und Zen nicht als therapeutische Methoden. So verließ ich den Schwarzwald wieder und ging nach Berlin. Dort eröffnete ich eine kleine Schule und hatte in wenigen Monaten achtzig Schüler. Die Schaubühne trat an mich heran und bat mich, die Schauspieler in Aikido und Meditation zu unterrichten.

Inzwischen gab es überall in Deutschland Aikidogruppen, doch ich war mit der Entwicklung nicht zufrieden, denn zunehmend etablierte sich Aikido als bloße Selbstverteidigung oder, was noch schlimmer war, als Sport mit Anspruch. Ich folgte meiner Intuition und war erfolgreich. Äußerlich hatte sich alles wunderbar entwickelt, doch mir war klar, dass ich das, was ich suchte, noch immer nicht gefunden hatte. Doch wo war das Ki, wenn ich die Matte verließ? Was überhaupt war Ki ? Wo war der stille Geist, wenn ich aufhörte zu sitzen? Ich begann langsam, die Formen des von mir gelernten Aikido aufzulösen, und suchte jenseits von Form, suchte eine Bewegung, die außerhalb der Technik Bestand haben konnte, und begann, daran zu arbeiten, natürliche Bewegung und Technik zu vereinen.

Ich empfand in den von Meister Noro aufgezeigten Zielen eine Begrenztheit. Ich traf in all den Jahren niemand, der fleißiger trainierte als ich, oder erfolgreicher, doch ich konnte nicht fühlen, wie ich all die positiven Werte, die Noro mit Aikido verband, mir an die Brust hätte heften können. Ich hatte eine in Europa einzigartige Position, wie sollte es erst den anderen ergehen? Auch wollte ich kein strahlender und erfolgreicher Held werden, ich suchte inneren Frieden und ein endgültiges Verständnis. Immer und immer wieder saß ich vollkommen still, mit geschlossenen Augen, und hörte Meister Noros Worte, was er sagte, wie er es sagte.

Ich entschied mich, nach Japan ins Dojo Ueshibas zu fahren. Dort traf ich Meister Yamaguchi, zu dem ich schnell ein enges Verhältnis entwickelte. Durch eine Lebensmittelvergiftung wurde ich schwer krank, trainierte jedoch regelmäßig und saß jeden Tag Za Zen. Ich wurde immer schwächer, bis ich am Ende kaum noch eine Streichholzschachtel hochheben konnte. Ich war in der Zeitung des Hombu-Dojo als einer der höchsten europäischen Aikidoka angekündigt worden und konnte mich nicht verstecken. So lernte ich, ohne Einsatz physischer Kraft meine Partner zu bewegen.

Eines Nachts wachte ich vom Stich einer Mücke in meine rechte Augenbraue auf. Von einem Moment zum anderen war ich vollkommen angefüllt von Todesangst, ich spürte, der Tod war in mir, in diesem Augenblick, ganz real. Und ich sah, dass ich den Bogen überspannt hatte, dass es kein Entrinnen gab. Ich entschied, dass, wenn ich jetzt sterben müsse und es keinen Ausweg gab, ich nicht wegschauen wollte. Wenn ich jetzt sterben musste, so entschied ich, dann wollte ich nicht davonlaufend eingeholt werden, also wählte ich den Tod.

Gut, sagte ich mir, dann sterbe ich jetzt, und ich ging innerlich auf den Tod zu. In dem Augenblick war es, als würden sich meine Füße nach unten hin öffnen - ich wurde leer - so, als würde einem mit Wasser gefülltem Gefäß der Boden fortgenommen. In einer Sekunde war ich leergelaufen. Ich war wahrhaftig leer und vollkommen still. Ich öffnete eine der Schiebewände des Landhauses, um in den Garten zu sehen. Ich sah die Felsen im Garten, abgebrochene Äste, heruntergefallenes Laub und sah, dass Leben und Tod eine einzige, untrennbare Wirklichkeit darstellen. Es war kein normales Sehen oder Verstehen, sondern etwas anderes, Unmittelbares, denn ich war eins mit allem. Ich sah die Sterne und hörte ihr helles Klingen, ich verstand die Geräusche, den Wind und das Rauschen der Bäume. Ich wusste, dieses Erlebnis hatten die Zen-Meister beschrieben, und ich stand mit ihnen Augenbraue an Augenbraue. Ein Vorhang war fortgezogen, und ich war eins mit allem Sein, wie vorher auch, aber vorher hatte ich es nicht sehen können. Wahrhaft, das Alltägliche ist das Außergewöhnliche. Irgendwann bemerkte ich, dass ich denken konnte, ohne dass dieser Zustand verschwand. So nutzte ich den Moment und stellte die alte Frage nach Gott. Der ganze Kosmos vibriert jeden Augenblick vor Energie, und die Sterne klingen hell. Doch die Frage war keine Frage mehr, sie selbst war bereits die Antwort. Die Wirklichkeit selbst ist die Antwort auf alle Fragen. Später ging ein kurzer, aber heftiger Regenschauer nieder. Ich saß im Haus und schaute in den Garten. Ich war so still, dass zwischen jedem Tropfen auf dem Dach eine Ewigkeit zu vergehen schien. Ich sah, dass ich unendlich aufgehoben bin im Ganzen, dass nichts hinzukommt und nichts geht. Ich sah, dass keine andere Zeit existiert als dieser Augenblick, dass er weder einen Anfang besitzt noch ein Ende; zeitlose, sich permanent wandelnde Gegenwart, kein Schrecken steckt darin. Dieser Zustand dauerte fünf oder sechs Stunden; danach legte ich mich schlafen.

Wieder in Berlin, wurde ich davon überrascht, dass Wolken meinen Alltag verdüsterten. Ich verstand nun alles, musste jedoch entdecken, dass das für nichts gut war. Es schien, dass meine Probleme erst richtig anfingen. Es existierte in mir eine unfriedliche Koexistenz von absolutem Verstehen und ungelösten Alltagsproblemen. Mir war unverständlich, wie dieses möglich sein konnte, und ich litt an der Unfähigkeit, diese Widersprüche aufzulösen oder auch nur zu verstehen. Daraufhin entschied ich mich, jedes Jahr ein- bis zweimal nach Japan zu fahren. Es zog mich immer häufiger ins Zen-Kloster. Dort hörte ich von der Krankheit nach der Erleuchtung, die im Festhalten ihren Ursprung hat. Ich begriff, dass mein richtiges Verständnis nicht das Ende der Meditation war, sondern ihr Anfang; ich hatte verstanden, dass es nichts zu tun gibt und nichts loszulassen. Was also hielt ich fest?  Ich begann zu verstehen, hörte auf zu verstehen, war überzeugt, es in den Alltag geholt zu haben, wurde vom Roshi um geschoben, litt, war glücklich, ließ los, hielt fest, verstand, hörte auf zu verstehen; zuletzt bestätigte Harada Roshi, dass ich leer sei, und dieses in den Alltag geholt hätte. Leer-Sein heißt, nicht mehr durch die Mittel der Sprache sich selbst und die Welt zu betrachten und zu erfahren.